Schweizer Pavillon, Architekturbiennale Venedig — Bauen für die Imagination
Lisbeth Sachs war eine der ersten Architektinnen der Schweiz. Was wäre, wenn sie und nicht Bruno Giacometti den Schweizer Pavillon in Venedig gebaut hätte? An der Architekturbiennale stellt das Architektinnen-Kollektiv Annexe die Frage gemeinsam mit Axelle Stiefel als «embedded artist». Ein Gespräch mit Myriam Uzor und der Künstlerin.
Kunstbulletin: Annexe ist ein Team von Architektinnen, das auch kuratierend auftritt. Wie kam es zu diesem Kollektiv?
Myriam Uzor: Kuratorinnen sind wir für dieses Projekt. Normalerweise sind wir eine Gruppe von vier Architektinnen – Elena Chiavi, Kathrin Füglister, Amy Perkins und ich. Formiert haben wir uns 2021 im Kontext des Vereins ProSaffa1958-Pavillon, der sich für den Erhalt und Wiederaufbau des Pavillons von Berta Rahm einsetzt. Dabei entdeckten wir aktuelle Themen, die uns als Architektinnen berührten und betrafen. Anlässlich des 50-Jahre-Jubiläums zum Frauenstimmrecht in der Schweiz realisierten wir im Rahmen eines Wettbewerbs der alliance F und der Stiftung Mercator eine Art Wanderfestival im öffentlichen Raum mit Diskussionen und Workshops, die bei diesem Pavillon ansetzen. Der Auftakt dazu fand während eines Bau-Workshops an der Open-Air-Ausstellung ‹OpenHouse› im Park von Genthod bei Genf statt. Dort lernten wir auch Axelle kennen.
Kunstbulletin: Ihr versteht euch als Architekturkollektiv, das verschiedene Funktionen annehmen kann?
Uzor: Richtig. Dabei ist uns wichtig, dass wir physisch arbeiten, räumlich. Der Massstab kann variieren, doch es geht immer um ein Anknüpfen. Annexe bedeutet etwas Zusätzliches, eine Erweiterung oder ein zusätzlicher Raum zu Bestehendem. Das ist der konzeptuelle Gedanke.
Was wäre gewesen, wenn …?
Kunstbulletin: Ihr habt den offenen Wettbewerb von Pro Helvetia für den Schweizer Pavillon der aktuellen Architekturbiennale gewonnen. Worin besteht das Projekt?
Uzor: Mit dem Ausstellungstitel ‹Endgültige Form wird von der Architektin am Bau bestimmt.› zitieren wir eine Notiz von Lisbeth Sachs auf einem Plan ihrer Kunsthalle, die sie für die SAFFA 1958 baute. Ein faszinierendes Projekt! Sachs (1914–2002) war eine der ersten offiziell registrierten Architektinnen der Schweiz. Wir fragten uns: Was wäre, wenn sie statt Bruno Giacometti den Schweizer Pavillon entworfen hätte?
Durch die fragmentarische Interpretation der Kunsthalle im Schweizer Pavillon beziehungsweise durch die Überlagerung von zwei architektonischen Figuren schaffen wir eine verfremdete räumliche Konstellation, die zwischen Erinnerung und Imagination oszilliert.
Dabei macht eine Sound-Installation aus Field Recordings die Vielschichtigkeit unseres Prozesses erlebbar und fügt der Architektur eine weitere Dimension hinzu: die des Zuhörens.
Kunstbulletin: Wie kam es von der Begegnung in Genthod dazu, dass du, Axelle, nun Teil des Teams bist für das Projekt zur Architekturbiennale?
Axelle Stiefel: Wir hatten gemeinsam überlegt, wie Annexe bezüglich der Biennale vorgehen könnte, ob sie eine:n Kurator:in beiziehen und wie sie ihre Ideen artikulieren sollten. Dies war noch vor der ersten Runde des Wettbewerbsprozesses. Wir entschieden uns, dass es Annexe gibt und eine «embedded artist», im Französischen «artiste embarqué». Die Idee dabei ist, dass es einen dynamischen Austausch gibt, dass sich die Perspektiven, Kompetenzen und Erfahrungen gegenseitig beeinflussen und bereichern. Wir kuratieren zusammen, aber ich behalte meine eigenständige Position, spreche nicht für die anderen. Es geht um Diversität und darum, die Unterschiede zu beleuchten.
Kunst jenseits gewohnter Abhängigkeiten
Kunstbulletin: «Embedded artist» ist ja ein Begriff, den du generell für deine Praxis nutzt. Kannst du beschreiben, was du damit meinst?
Stiefel: Es ist ein Begriff aus der Soziologie. Er bezeichnet Kunstpraktiken mit sozialem Charakter, die sich in einem anderen Wirkungsfeld bewegen als dem der Ausbildung. Im angelsächsischen Raum ist er gebräuchlicher. Die Künstlerin Mierle Laderman Ukeles (*1939) ist eine Pionierin auf diesem Gebiet. Es geht darum, Kunst ausserhalb der üblichen Abhängigkeitsverhältnisse, von Institutionen, Subventionen oder dem Markt, zu realisieren und damit ein anderes Publikum zu erreichen. Ich mag den Begriff «embarqué» lieber, was «an Bord genommen, mitgenommen» heisst. Es ist ein Bottom-Top-Ansatz, den ich seit einer Kunst-und-Bau-Erfahrung verfolge: Damals wurde ich erst einbezogen, als alle Entscheidungen über die Gestaltung des Raums bereits getroffen worden waren. Mit Annexe ist der Ablauf nun tatsächlich anders, und man spürt und erfährt es am Ergebnis.
Uzor: Wir haben lange gebraucht, um das Gefäss, in dem wir arbeiten, zu definieren. Gehört Axelle zu Annexe oder bleibt sie «embedded artist»? Dieser Prozess ist Teil der Arbeit, die wir in Venedig zeigen. Mit Axelle war es interessant zu sehen, wie sie sich adaptiert, wo sie versucht, in der Architektur Selbstverständliches zu hinterfragen oder eine andere Perspektive zu geben.
Stiefel: Hinzu kommt, dass die Biennale eine Grossausstellung im Kontext der Kulturindustrie ist. Ich habe als Künstlerin zwar nicht die Erfahrung einer solchen Mega-Ausstellung, aber ich habe Erfahrung damit, wie man zu einer Ausstellung kommt.
Uzor: Das Stichwort Ausstellung finde ich interessant. Die Biennale Venedig war ursprünglich eine Kunstbiennale. Die Pavillons sind dafür gemacht, Kunst darin auszustellen. Für uns macht es Sinn, dass wir als Architektinnen Architektur machen. Das zeigt sich in unserer Ausstellung, die eine architektonische Praxis erfahrbar und sinnlich erlebbar macht.
Kunstbulletin: Das heisst, dass Axelle als «embedded artist» einerseits konkret Ideen und Hilfestellungen für die Ausstellung lieferte, aber auch den Arbeitsprozess anders reflektierte, richtig?
Uzor: Genau, und sie hat den Arbeitsprozess auch aufgenommen. Uns stellte sich die Frage, wie wir den Prozess in der Ausstellung vermitteln können. Hier können wir wieder an den Titel anknüpfen: ‹Endgültige Form wird von der Architektin am Bau bestimmt.› Uns reizte die Ambivalenz zwischen der Form, die in der Architektur so stark ist, und dem Situativen, Agilen des Prozesses. Uns interessiert auch die Frage, wann der Prozess zu Ende ist. Hört er auf, wenn die Ausstellung eröffnet ist? Geht er weiter, wenn sie geschlossen wird? Sachs selbst interessierte das Werden und Vergehen von Architektur, also auch die zeitliche Komponente.
Axelle schlug vor, unseren Arbeitsprozess mittels Field Recordings «aufzunehmen». So wurde das Zuhören als aktive Tätigkeit wichtig. Seit über einem Jahr wächst unser Archiv aus individuellen Sound-Aufnahmen. Die Orte, Gespräche, Landschaften und Situationen, die da zusammenkommen, werden im Schweizer Pavillon hör- und erfahrbar. Gemeinsam mit dem Sound-Designer Octave Magescas entstand eine ortsspezifische Klangkomposition. Die Architektur funktioniert dabei fast wie ein Instrument, das durch die Präsenz der Besucher:innen stets neu gestimmt wird.
Stiefel: Ich spürte bereits in den ersten Treffen mit Annexe einen Widerspruch, eine Spannung: Die Gruppe muss eine Form liefern, eine Ausstellung, ein Produkt, und zugleich gibt es bei ihnen diese performative und prozesshafte Ebene, das Machen, das Fiktive, das Vermitteln. Ich fand das Konzept so schön, weil es so klar und gleichzeitig so offen war. Deshalb fragte uns die Wettbewerbs-Jury wohl auch, ob Bauen überhaupt nötig sei.
Uzor: Ja, aber uns geht es auch um die körperliche Erfahrung. Annexe knüpft an Vorhandenem an, das nicht unbedingt sichtbar sein muss. Ideen kommen nie aus dem Nichts, es gibt immer irgendwo einen Fundus, eine Erfahrung. Mit der Geste, den Pavillon von Lisbeth Sachs zu reinterpretieren, machen wir im Grunde eine Übersetzung von etwas, das es schon gibt. Aber durch den Kontext verändert sich diese Übersetzung so stark, dass wir am Schluss einen Raum haben, der verschiedene Erfahrungen und Zeiten überlagert.
Zwei architektonische Visionen
Kunstbulletin: Das heisst, es wird im Schweizer Pavillon die architektonische Kopie geben, die ihr einbaut, und das Sound Piece, aber keine Archivbilder?
Uzor: Lisbeth Sachs baute den Pavillon mit einem bestimmten Programm: Er musste die Funktion erfüllen, Kunst aufzunehmen. Darin ist er dem Giacometti-Pavillon gleich. Auch haben beide Pavillons ungefähr dieselbe Grundfläche. Aber sie haben eine komplett andere architektonische Sprache. Man erkennt darin zwei Visionen: Giacomettis Pavillon hat eine klassisch moderne Auffassung davon, wie man Kunst präsentiert. Er ist introvertiert, der Raum tritt zurück für das Kunstwerk. Er hat eine starke Konzentration, der Innenhof gleicht einem umschlossenen Garten. Lisbeth Sachs hingegen öffnet ihren Pavillon, lässt die Parklandschaft hindurchfliessen. Egal, wo man sich aufhält, man behält den Bezug nach draussen, dafür ist man weniger geschützt. Die Wände zeigen in die Weite, das zeltartige Dach lässt das Licht durch. Wo Giacometti alles nach innen respektive nach oben richtet, orientiert sich Sachs nach aussen. Wir entschieden uns, keine Bilder zu zeigen, denn sobald du Bilder an eine Wand hängst, wird die Wand zum Hintergrund.
Kunstbulletin: Der runde Pavillon durchdringt den eckigen Pavillon. Man könnte auch sagen: Die weibliche Architektur durchdringt die männliche. Spielt hier auch die Umkehr von erotischen Machtverhältnissen eine Rolle?
Uzor: Ich finde es schwierig, von weiblicher oder männlicher Architektur zu sprechen.
Man kann die Überlagerung binär sehen, aber eigentlich ist es weder noch: Man kann weder den Lisbeth-Sachs- noch den Giacometti-Pavillon erfahren. Es gibt einen neuen Parcours, eine neue Komposition. Hinzu kommen die Besucher:innen, ihre Bewegung und ihre Erfahrung vom Raum. Deswegen bauen wir auch, weil wir höchst neugierig sind, was sich verändert von dem, was man konzeptuell sehr gut verstehen kann. Es wird ein anderes Gefühl geben von Kontinuität und Diskontinuität. Der Ton ist dazu da, dieses Gefühl zu tragen und zu begleiten.
Kunstbulletin: Gibt es auch Sprache, oder sind es abstrakte Tonaufnahmen?
Stiefel: Es gibt Stimmen, aber eher als Klangfarbe. Es geht darum, die Besucher:innen in einen Zustand der Wahrnehmung zu bringen.
Erinnern, um Zukunft zu imaginieren
Kunstbulletin: Ihr sprecht oft davon, eine kollektive Erinnerung schaffen zu wollen.
Stiefel: Ja, und Erinnerung ist immer auch Vorstellung, Imagination, die sich in die Zukunft richtet, auf etwas, das vielleicht einmal sein wird.
Kunstbulletin: Ihr stellt zudem die spekulative Frage, was wäre gewesen, wenn nicht Giacometti, sondern Lisbeth Sachs den Schweizer Pavillon gebaut hätte. Habt ihr für euch die Frage beantwortet?
Uzor: Das Schöne an der Architektur ist, dass du dir immer Räume vorstellst, wenn du sie entwirfst. Man befindet sich immer in der Imaginationswelt. Ich habe eine klare Vorstellung von der Antwort dieser Frage, die sich aber immer wieder ändert.
Kunstbulletin: Wir hätten jetzt wahrscheinlich nicht nur einen anderen Pavillon, sondern auch eine andere Geschichte …
Stiefel: Interessant ist ja, dass die Kunsthalle existiert hat und dann verschwunden ist. Aber wir haben einige Spuren, die es uns ermöglichen, zumindest eine Vorstellung davon zu entwickeln, sogar Teile davon nachzubauen. Lisbeth Sachs’ Kunsthalle existiert nicht in den Geschichtsbüchern. Sie taucht nicht als Modell für Ausstellungen auf. Wir sind sehr gespannt auf ihre Rezeption: Ist diese Art des Ausstellens heute vielleicht zeitgemässer als damals?
Kunstbulletin: Das heisst, ihr versucht schon auf diese Lücke in der Geschichte hinzuweisen, dass es so wenige Architektinnen gibt, die sich verwirklichen konnten. Ein Blick auf das Programm der anderen nationalen Pavillons in den Giardini zeigt, dass feministische Themen nicht vorhanden sind. Es dominieren Re-Use und KI.
Uzor: Ja, der diesjährige Kurator meinte auch zu uns, das Thema Frauen und Intersektionalität hätten wir schon gehabt. Jetzt würde es um Lösungen für die Zukunft gehen, Klimawandel, technische Lösungen. Unser Projekt ist nicht ein Projekt über Feminismus, aber es ist ein feministisches Projekt. Hinzu kommt, dass wir Lisbeth Sachs als Vorbild schätzen, nicht weil sie eine Frau ist, sondern weil sie unglaubliche Architektur gemacht hat.
Meret Arnold, Redakteurin des Kunstbulletin und freie Autorin, lebt in Zürich.
Deborah Keller, Chefredakteurin des Kunstbulletin, lebt in Zürich. redaktion@kunstbulletin.ch
→ ‹Endgültige Form wird von der Architektin am Bau bestimmt.›, Schweizer Pavillon, Biennale Architettura, Venedig, 10.5.–23.11. ↗ labiennale.org ↗ prohelvetia.ch