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Louisa Gagliardi — Sittengemälde unserer Zeit

Louisa Gagliardi zeigt im MASI, was Malerei im 21. Jahrhundert bedeuten kann. Mit ihrer ersten musealen Soloschau lässt sie uns zu Zeitzeug:innen einer uns entfremdeten Gegenwart werden. Was ist hier echt, was nicht? Unsere durch Deepfakes bereits verunsicherte Wahrnehmung wird durch Gagliardis manipulierte Bilder noch etwas mehr erschüttert. 

‹Many Moons› nennt Louisa Gagliardi die monumentale Einzelausstellung, die sie, kuratiert von Francesco Benini, im MASI eingerichtet hat. Ich nehme also den Mond, diesen Licht reflektierenden Körper, als Orientierungspunkt für den Besuch und steige hinab zur Präsentation im Untergeschoss des Museums.
Ich meine, eine Gemäldeausstellung zu betreten – ein Eindruck, der sofort gestört wird, während das Zeitgefühl zu entgleiten scheint. Die glänzenden Oberflächen sind keine Malereien im klassischen Sinn, sondern auf PVC gedruckte digital generierte Bilder. Sie erinnern an Bildschirme, auf denen die Reste eines Traumes nachhallen. Mein Blick fällt auf ein grosses Werk: In ‹Green Room› scheint kaltes Mondlicht auf eine Figurengruppe, die mit nackten Füssen in einem anonymen Raum, der einer Hotellobby ähnelt, sitzt. Die Figuren sind teilnahmslos und ihr Inkarnat ist, wie so oft bei Gagliardi, in Lila oder fluoreszierenden Tönen gehalten. Sie haben schon längst das von Bildschirmen abgestrahlte Licht absorbiert. Während ich dem Werk entlanggehe und nach Anhaltspunkten suche, blitzen Lichteffekte auf. Dann bemerke ich das Trompe-l’œil: Die vermeintlichen Fenster, durch die zwei Hunde zu sehen sind, entpuppen sich als Bilder im Bild. Die gespannten Leinen am Hals der Tiere verweisen unheimlich auf unbekannte Mächte, die über den Bewegungsradius der Figuren wachen. 

Licht und Präsenz
Louisa Gagliardi zeigt in ihrem meisterhaften Spiel mit Reflexion und Illusion auf durchdachte Art auf, zu was ein Gemälde fähig ist. Ihre malereigeschichtlichen Bezüge einerseits und das Ausloten der Möglichkeiten des Mediums andererseits sind eine Liebeserklärung an die Malerei. 
Am Anfang jedes Werks versammelt die Künstlerin ihre in unzähligen Moleskin-Heften festgehaltenen Skizzen, um sie am Laptop zu einer Komposition zusammenzufügen. Dann beginnt die fleissige Handarbeit mit der Maus, durch die sie mit Farbe, Überlagerung, Verdichtung und Licht hantiert. Der digitale Malprozess, der in einem Video im Vorraum der Ausstellung zu beobachten ist, besteht aus bis zu hundert Layern und unterscheidet sich im Grunde nicht von der physischen Überlagerung der Firnisse van Eycks oder Raffaels. Es geht auch Gagliardi darum, mit Licht, Form und Farbe die Qualität einer Präsenz zu erlangen. 
Das ausgedruckte Bild zieht sie von Hand auf PVC-Platten auf und verfeinert verschiedene Stellen – einem Schlussfirnis ähnlich – mit Nagellack oder Gel. «Ich möchte in das Bild eingreifen, aber ich möchte es nicht mit Farbe tun, deshalb benutze ich zum Beispiel Nagellack», so die Künstlerin. «Es ist ein Akt des Malens, ohne das Bild vollständig zu verändern, fast wie ein kleines Augenzwinkern.» Es sind ebendiese Stellen, die unvermittelt aufleuchten, wenn das Licht aus einem bestimmten Winkel darauf scheint. 

Gatekeeper des unbegrenzten Raums
Mit zwei extra für die Schau gebauten Räumen nimmt Louisa Gagliardi ihr Thema der «Mise en abyme» subtil in die Szenografie auf. Sie hat darin jeweils ein ortsspezifisches Werk geschaffen, das wir betreten können. Der Eingang zum ersten Raum wird von zwei Porträts flankiert, ‹Gatekeeper (Closed)› und ‹Gatekeeper (Open)› (beide 2024). Hüten sie die Geheimnisse des Raums hinter der Tür oder wachen sie über das Betreten des Raums? In ihrer sitzenden Position vor einem Vorhang mahnen sie formal an Francis Bacons Papst-Serie. Im Gegensatz zu Bacons ungestümem Malgestus strahlen Gagliardis Figuren allerdings Gelassenheit aus, denn im schrankenlosen digitalen Raum gibt es auch nichts mehr zu bewachen. 
Ich gehe also unbekümmert an den beiden sitzenden Figuren vorbei und betrete buchstäblich das Werk ‹Curtain Calls› (2025): Ein farblich auf den Raum abgestimmter Teppich dämpft die Schritte. Darauf stehen zwei Corbusier-Sessel mit Titel ‹House Sitting (Shirt)› und ‹House Sitting (Coins & Watch)› (beide 2025). Wandfüllende Paneele bedecken alle vier Wände und strahlen eine düstere Atmosphäre aus. Ich nehme Platz, und der Sessel entpuppt sich als eine mit bedrucktem, synthetischem Textil verkleidete Attrappe, die sehr humorvoll die Illusion mit dem Haptischen vereint. Auf den grossformatigen Paneelen entfaltet sich ein kühl designter Zwischenraum, umgeben von Vorhängen, die auf jeder Wand einen Ausgang freilassen. Die Figuren, die sich hier aufhalten, wirken erneut gleichgültig, erneut werden sie von fahlem Mondlicht beleuchtet. 
Solche dystopisch anmutenden Inszenierungen machen Gagliardis Hintergrund in der Werbebranche spürbar. Nach dem Grafikdesign-Studium an der ECAL in Lausanne und der Amsterdamer Gerrit Rietveld Academie arbeitete sie für Marken wie Hublot und Kenzo. Als sie eines Tages zwei Bilder ihrer freien Arbeiten auf Instagram postete, wurde sie dort unmittelbar von der Kunstwelt entdeckt. 

Gemalte Heterotopien
Das Thema des anonymen Zwischenraums, des Moments der Schwebe zwischen Alltäglichem und Mysterium führt durch die ganze Ausstellung. «Das Gefühl, ein ungebetener Gast zu sein, ist in meiner Arbeit bereits sehr präsent», sagt die Künstlerin dazu, «ich habe es mit den immersiven Räumen ‹Curtain Calls› und ‹Streaming› noch weiter verstärkt.» Ihre Werke sind gemalte Heterotopien, die sich zeitlich und örtlich dem gewohnten Umfeld entziehen und ihren eigenen kryptischen Regeln folgen. Sie sind dem Geflecht unserer digitalen Parallelwelt entnommen und führen uns vor Augen, wie unsere Körperlichkeit mit der Virtualität verschmilzt und durch die sozialen Medien verwässert wird. 
Die Verschmelzung und Überlagerung des Social-Media-Zeitalters unterstreicht Gagliardi, indem sie dem Publikum die Layer des Malprozesses offenbart. Auf ‹Visitors› (2024) sieht man die verschiedenen Ebenen gut: Die Künstlerin hat im Vordergrund ein überdimensionales Schiebeschloss gemalt, das zwei Bildträger vereint. Sie zeigen je ein Interieur, aus dem uns eine sitzende Figur aus einer Beauty-Maske in unbehaglicher Frontalität anschaut und in ihrer Verdopplung an die Inszenierungen unserer eigenen digitalen Doppelexistenz mahnt. Die liebevoll gemalte Blume im Hintergrund zeigt Gagliardis Detailversessenheit und ihren Hang zu kunsthistorischen Bezügen. «Ich hatte das Glück, Eltern und eine Patentante zu haben, die mich immer in Museen in ganz Europa mitnahmen, ich war schon als Kind von Kunst und Kultur umgeben», so die Künstlerin. Durch die Art der Darstellung gewisser Materialitäten und Motive oder ihrer Initialen – bei ‹Visitors› etwa auf dem Badetuch am rechten Bildrand – versteckt Gagliardi persönliche Codes für uns. Das Schloss wird dann zum Bindeglied zwischen Publikum und Bild und die Hyperkonnektivität auf den Punkt gebracht. Gagliardi nimmt uns, wie es ihre Gotte einst mit ihr tat, an der Hand und führt uns durch den Dschungel des kollektiven Traums der Kunstgeschichte.

Liebeserklärung an die Malerei
‹Streaming› (2025), die zweite In-situ-Arbeit, zeigt zwei schlafende, übergrosse Figuren, die über die Ecken hinweg den ganzen Raum einnehmen. Auch hier wird unser voyeuristischer Blick von einer haptisch anmutenden vordersten Ebene aufgefangen, auf die Gagliardi Blumen und Früchte gezeichnet hat und die auf das Unterbewusste verweist. Auf dem tiefblauen Spannteppich stehen herrlich überdimensionale, skulpturale Armbanduhren, ‹Time After Time› und ‹Time After Time After Time› (2025), die elegant und durch persönliche Inschriften an der Innenseite berührend wirken. Der Glanz dieser auf Aluminium gedruckten Vanitas-Symbole, der auf uns zurückstrahlt, macht uns zu Zeug:innen eines melancholischen, traumhaften Zeitstillstands und weckt Erinnerungen an Werke des Surrealismus. Die Objekte wirken seltsam leicht neben der plastisch gemalten Bettdecke, unter der die Figuren liegen. Auch religiöse Darstellungen des Quattrocento klingen an, und die gemalte Liegefläche wird zum Marmo finto und lässt der Assoziation freien Lauf: Wird hier das Mysterium der Inkarnation durch die Bildbetrachtung evoziert? Auf jeden Fall lädt uns Gagliardi zu Augenblicken der Kontemplation ein, in denen wir unsere Verstrickungen mit dem Virtuellen und dem Vergangenen reflektieren. 
So auch wenn wir uns im Bild ‹Pushing Buttons› (2023) selbst in die Augen schauen und uns dasselbe Schaudern erfasst, das auch schon den Betrachtenden von Velazquez’ ‹Las Meniñas› über den Rücken lief. Das Eindringen der Natur auf mehreren Bildern erlöst uns vom Schauder dieser Selbstbetrachtung. Die vielen Vögel in Gagliardis Gemälden verweisen, unbekümmert von der dystopischen Stimmung, tröstend auf die Überlegenheit der Natur.

Sophie Brunner, freischaffende Kuratorin und Mitbegründerin des Atelier Rohling in Bern, lebt in Cavigliano. sophiebrunner@gmx.ch

→ ‹Louisa Gagliardi – Many Moons›, MASI Lugano, bis 20.7.; mit Begleitpublikation sowie der Edition ‹Players›, realisiert in Kooperation mit dem MASI und der Edition VFO, Zürich ↗ masilugano.ch

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Details Title Country City
Switzerland
Lugano
MASI Lugano
Switzerland
Lugano

Exhibitions / Events

Title Date Type City Country Details
Louisa Gagliardi: Many Moons 16.02.2025-20.07.2025 Exhibition Lugano Switzerland
16.02.2025-20.07.2025
Exhibition
Lugano
Switzerland