Kunst und Kochen — Chantal Michel — Die Natur als Grundlage
In ihrem Projekt ‹Der Hof› verbindet Chantal Michel Kunst und Landwirtschaft auf eindrückliche Art und Weise. Die Natur wird zum Medium der Kunst. Die Künstlerin verwertet und teilt die Ernte und öffnet so Raum für Austausch – auch im Rahmen von Diners. Grund für das Kunstbulletin, sie für die Reihe ‹Kunst und Kochen› zu besuchen.
«Der ist für dich.» Chantal Michel reicht mir einen grossen, roten Apfel. Wir stehen in ihrem Hofladen inmitten von befüllten Einmachgläsern. Hier gibt es getrocknete Aroniabeeren, eingelegte Nashi-Birnen, Shiso-Sirup und andere ausgeklügelte Kreationen. Von vielen Sorten habe ich vorher noch nie gehört; alles sind verwertete Produkte aus dem Garten der Künstlerin. Mein Apfel sei exakt die Frucht aus dem projizierten Foto, das diesen Artikel bebildert – als hätte er auf mich gewartet. Ich lege ihn sorgfältig in den Rucksack. Das herbstliche Obst war auch ausschlaggebend für das Rezept, das die Künstlerin den Leser:innen vorschlägt.
Die Berner Künstlerin Chantal Michel (*1968) bespielt aktuell ein über dreihundertjähriges Haus in Diessbach bei Büren als Kunstprojekt unter dem Titel ‹Der Hof›. Wir treffen uns am Abend, und als ich bei der Kirche Richtung Dorfrand abzweige, folge ich einer dunklen Strasse, bis mich die Lichter und Klänge des Hauses auffangen. Seit kurz vor der Pandemie renoviert, restauriert und beseelt Chantal Michel das verlassene Bauernhaus. Dank ihrem Hintergrund als Keramikerin und Bildhauerin kennt sie sich mit Materialien und Techniken aus; YouTube-Tutor:innen und Fachpersonen der Denkmalpflege stehen beratend zur Seite. Teilweise hat Michel Möbel, Böden oder ganze Zimmer aus Häusern mitgebracht, in denen sie vorher wirkte, und hier neu verbaut. Bekannt geworden mit Performances, Fotografien und Videos, in denen sie sich unterschiedlichen Umgebungen angleicht, ist die künstlerische Umnutzung verlassener Häuser mittlerweile zu Michels Markenzeichen geworden. Unter anderem das Schloss Kiesen oder der Brückenkopf, ein Bürogebäude in Bern, wurden zu einer Gesamtinstallation. «Die Häuser sind die Basis meiner Kunst und bestimmen das Thema», sagt sie, «hier ist es die Landwirtschaft, die sich aufdrängt.» Um der Hofarbeit gewachsen zu sein, absolvierte Chantal Michel zusätzlich eine landwirtschaftliche Ausbildung. Was sie anpackt, führt sie mit grösster Sorgfalt und Perfektion aus.
Sensibilisieren für die Natur
Die Dunkelheit hat heute den Garten rund ums Haus bereits geschluckt – einen 4000 Quadratmeter grossen, essbaren Waldgarten, den Michel angelegt hat. Insgesamt habe sie 400 Bäume und Sträucher gepflanzt – sie zeigt mir ihre schwieligen Hände. Die Arbeit mit der Natur ist für sie ein erweitertes Medium ihrer Kunst. Sie versteht sie als politischen Beitrag an die Biodiversität und als Hinterfragung des vorherrschenden Kunstbetriebs. Aus Überzeugung hat sie sich der Permakultur verschrieben, einem landwirtschaftlichen Konzept, das darauf basiert, Ökosysteme und Kreisläufe der Natur wahrzunehmen und diese auf eigene Strukturen zu übertragen. So vermengen sich Kunst, Leben und Landwirtschaft zu einem konsequenten Ganzen.
Einen Teil ihrer Ernte verkauft Chantal Michel in Gemüsesäcken und schafft so eine soziale Verbindung zu den Menschen im Dorf. Zusätzlich kocht sie daraus mehrgängige Diners für die Besucher:innen ihrer Gesamtinstallation: «Ich möchte Menschen zusammenführen und sie für unsere Grundlage, die Natur, sensibilisieren. Ich möchte sie zu ihren Wurzeln zurückführen und ihnen den Raum geben, um gemeinsam über Kunst und Natur nachzudenken.» Während im Sommer ihr Fokus auf dem Garten lag, widmet sich Chantal Michel nun vermehrt der künstlichen Inszenierung im und um das Haus. Anfang November eröffnete sie ihr neues Winterprogramm, in dem sich ihre Kunst laufend verändert und weiterentwickelt.
Chantal Michel führt mich rund ums Anwesen, sodass ich durch die beleuchteten Fenster in die Zimmer linsen kann. Spiegelungen, projizierte Video- und Fotoarbeiten und teilweise skurrile Objekte – ausgestopfte Tiere, eine Discokugel, ein rauchendes Bett – überlagern sich zu neuen Bildern. Ein immergleiches Musikstück begleitet uns im Inneren durch sämtliche Räume. Der Gang durch die Installation fühlt sich an wie das Wandeln durch eine Traumwelt, irgendwo zwischen wohlig und unheimlich. Die Künstlerin schwebt als Hausherrin im dunklen Kleid voraus und passt sich perfekt in die Räume ein. Ähnlich wie in ihren Fotografien, in denen sie sich und ihren Körper als unterschiedliche Charaktere inszeniert. «Das Ganze ist natürlich ein Spiel, aber ein bis ins letzte Detail durchdachtes», sagt sie. Ihr Privatleben reduziert sie dabei auf ein Minimum, sie übernachtet in einem kleinen Nebenraum auf der Hofseite.
Persönliche Orte schaffen
Wir steigen nach unten ins Herz des Hauses, in die ehemaligen Ställe. Ursprünglich waren das düstere Kellerräume, jetzt ist es hier einladend hell und warm, es riecht nach Myrrhe und Patchouli und aus den unterschiedlichen Abteilen leuchten projizierte Fotoarbeiten. In den grössten Raum, einen Gewölbekeller, lädt Chantal Michel in der Wintersaison ihre Gäste zum gemeinsamen Diner. Eigentlich sei sie eine Einzelgängerin, erzählt sie. Dazu passt der Rückzug in die grossen, leeren Häuser und das isolierte Arbeiten. In der Rolle als Gastgeberin hat die Künstlerin eine Form gefunden, mit dem Publikum in einen direkten Austausch zu treten. «Ich habe gemerkt, dass mir Menschen wichtig sind, ich will eine nahbare Künstlerin sein und einen persönlichen Ort schaffen», sagt sie. Nach dem gemeinsamen Essen haben die Besucher:innen die Möglichkeit, auf dem Hof zu übernachten und am nächsten Morgen gemeinsam mit Chantal Michel die Gespräche vom letzten Abend fortzuführen. Manchmal seien sie um 18 Uhr des Folgeabends immer noch da.
Auf meinem Heimweg beisse ich endlich in den Apfel vom Hof: Er schmeckt rund und voll und süss.
Ava Slappnig, freie Autorin und Kulturjournalistin in Bern. ava.slappnig@bluewin.ch
→ ‹Chantal Michel – Der Hof›, immer samstags, 18 Uhr, Ausstellung mit 5-Gang-Diner (CHF 65.–) / mit Übernachtung u. Frühstück (CHF 85.–); nur auf Anmeldung: 031 311 21 90 ↗ chantalmichel.ch/derhof