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Werkschau Kanton Zürich 2022 — Bettina Carl

Kunst dient als Spiegelbild ihrer Zeit. Sie ist dabei auf einzigartige Weise in der Lage, die affektiven Dimensionen komplexer Machtverhältnisse in bestimmten Gesellschaftsformen abzubilden. Das spiegelt auch die Kunst von Bettina Carl. Ihre Arbeiten erscheinen auf den ersten Blick eigenartig, sogar unheimlich, und doch auch irgendwie lieblich. Sie laden ein in ein narratives Spannungsfeld, das sich jeder linearen Beschreibung entzieht.

Bettina Carl war Meisterschülerin bei Katharina Sieverding an der Universität der Künste in Berlin. Sie lebt seit 2007 in Zürich. Bekannt ist sie vor allem für ihre grossformatigen Zeichnungen auf Papier, die sie auf malerische Weise gestaltet. Ihre neue Serie M beruht motivisch auf einem Zeitungsfoto. Das ist für ihre Praxis eher untypisch, denn meistens entspringen die Kompositionen der Spontaneität und orchestrieren sich spielerisch während des Entstehungsprozesses. 

Die Arbeit an dieser Serie erfolgte auch materiell in mehreren Stufen. Dazu werden die Papierbögen anfänglich auf dem Boden bearbeitet und mit einem Zerstäuber besprenkelt. Dann werden verdünnte Wasserfarben mit breiten Pinseln aufgetragen. Die Nässe wellt das Papier, sodass Farbpfützen entstehen, deren zufällige, organische Formen nur beschränkt beeinflussbar sind. Nach dem Trocknen werden die Papierbögen an der Wand mit Kohle und Kreide weiterbearbeitet. Diese vielschichtige Herangehensweise, die zwischen harten und weichen Malmitteln wechselt, erzeugt die grundlegende Dissonanz in Carls Zeichnungen. 

Diese Dissonanz löst ein flimmerndes Seherlebnis aus. Eine kohärente Deutung entfällt. Als Betrachtende oszillieren wir zwischen Nähe und Distanz, verfolgen ein sich formendes Sujet, das dem Blick entrinnt oder sich auflöst. Diese Melodie ordnet das Motiv immer wieder aufs Neue. 

Trotz dieser Offenheit ist es kompositorisch und inhaltlich relevant, dass die Serie M auf eine Fotovorlage aus den 1930er-Jahren zurückgeht. Das Bild zeigt Benito Mussolini mit nacktem Oberkörper als Superhelden auf einem Schlitten sitzend. Die inszenierte Pose – heutigen Inszenierungen autoritärer Staatsführer nicht unähnlich – strotzt vor viriler Männlichkeit und wirkt ebenso kindlich wie skurril.

Körperlichkeit dient Bettina Carl stets als Leitmotiv, um emotionale Widersprüche, Sexualität, Gewalt und Zerfall zu erforschen. Durch schwebende, wabernde Perspektiven gelingt es der Künstlerin auf kühne Weise, im Bildraum die komplizierte Beziehung von Sichtbarem und Unsichtbarem zu hinterfragen. Mit dem Protagonisten M zeigt die Künstlerin die konstitutive Beziehung von Macht, Wissen und Ästhetik auf, ohne explizit politisch aufzutreten. Sie untersucht vielmehr Eigen- und Fremdwahrnehmung, denn das Dargestellte entspricht nicht zwingend dem Gesehenen. 

Die Begegnung mit M hinterlässt einen bizarren Geschmack, ähnlich dem, wenn man morgens aufwacht und sich des eigenen Traumes noch für einen Moment gewahr bleibt. Doch bereits beim Ansetzen des Denkens, entflieht die einstige Klarheit und verpufft im Nebel des Wundersamen. Bettina Carl präsentiert ein konsequentes Werk, das einlädt, das Sehen zu wagen.

Samantha Grob ist als Auslandschweizerin in unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen. Sie studierte in Deutschland und Antwerpen. Heute ist sie als Kunsthistorikerin und Schreiberin in Zürich tätig.

 

 

Artist(s)

Details Name Portrait
Bettina Carl

Author