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Martin Jaeggi : Die meisten Leute kennen dich als Mitbegründer und Direktor des Fotomuseums Winterthur. Seit zwei Jahren bist du nun nicht mehr am Fotomuseum Winterthur - was machst du heute ?

Urs Stahel : Ich unterrichte einerseits Fototheorie und -geschichte an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), ich bin da für ein kleines Pensum angestellt. Dann war ich letztes Jahr Gastdozent an der Universität Zürich mit einer umfangreichen Vorlesungsreihe und einem Seminar.

MJ: Zu welchem Thema ?

US: Das Thema, das ich mir gegeben hatte, war «Vom Krieg der Körper zum Reich der Zeichen - Fotografie 1950 bis 2000». Ich untersuchte den enormen Einfluss des Zweiten Weltkriegs auf die Fotografie und Kunst der 1950er- und frühen 1960er-Jahre, der nach wie vor nicht ausreichend erforscht ist, wie ich meine. Das Seminar beschäftigte sich mit Industriefotografie. Das bringt mich zum zweiten Teil meiner gegenwärtigen Arbeit : Ich bin in Bologna an einer neuen Institution tätig, der Manifattura di Arti, Sperimentazione e Tecnologia, kurz MAST, oder deutsch : Manufaktur für Kunst, Experimente und Technologie. Es handelt sich um ein neues Zentrum für Industriekultur am Stadtrand von Bologna, das vor eineinhalb Jahren eröffnet wurde. Die Fondazione MAST wurde, wie auch einige andere Stiftungen, von Isabella Seràgnoli gegründet, einer wohlhabenden Fabrikbesitzerin mit hohem sozialem und philanthropischem Anspruch. Sie will der Jugend mit dieser Institution industrielle Erfindung, Planung, Produktion, Marketing nahebringen, damit Europa nicht ganz zum Dienstleistungskontinent verkommt. Ich bin in einem Teilbereich dieses Zentrums tätig. Einerseits baue ich eine Industriefotografie- Sammlung auf. Das umfasst Architektur, Städtebau, Maschinen, Produkte, Arbeiter - eben alles, was zur corporate photography gehört. Gleichzeitig kuratiere ich dort drei Ausstellungen pro Jahr zum Thema Industriefotografie. Daneben verfolge ich weitere Ausstellungsprojekte. Eigentlich habe ich mir vorgestellt, dass ich nach meinem Weggang vom Fotomuseum eher «kammermusikalische» Projekte machen würde. Ich hatte die Idee, ein Büro von 100 Quadratmetern zu beziehen, wo ich an zwei Wänden ab und zu ganz besondere Bilder hängen würde - das wären dann meine Ausstellungen, eine Vorstellung, die ich ganz wunderbar fand. Doch zurzeit ist das Gegenteil der Fall : Ich arbeite an einem «symphonischen», nachgerade gigantischen Projekt in Deutschland, einer Biennale in drei Städten - Ludwigshafen, Mannheim und Heidelberg - und sieben Museen, mit einer Ausstellungsfläche von insgesamt 4'000 Quadratmetern. Das entspricht nicht ganz diesen 100 Quadratmetern, die mir vorschwebten. Die Ausstellung eröffnet im September 2015, ich bin mit Volldampf an der Arbeit. Dennoch, es macht mir unglaublich Spass, auch weil ich glaube, dass ich ein gutes Thema entwickelt habe.

MJ: Wie lautet das Thema dieser Ausstellung ?

US: Ich nenne es «7P - 7 Places, 7 Precarious Fields». Das umfasst Themen wie Kommunikation und Kontrolle, Wissen und Macht, Gewalt und Zerstörung, Geld und Gier. Ich versuche - entgegen dem gegenwärtigen Trend der Fotografie, wie die Malerei zusehends selbstreferenzieller zu werden -, wieder die ursprüngliche Aufgabe der Fotografie, sich den Realitäten der Gegenwart zu stellen, ins Zentrum zu rücken. Aber nicht in der Art und Weise der klassischen Reportagefotografie, die mit dem Zeigefinger auf Dinge hinweist und meint, damit auch gleich das Problem gelöst zu haben. Es geht mir vielmehr darum, die Konfliktfelder der Welt ins Auge zu fassen. Ich möchte Fotografen und Fotografinnen zeigen, die in solchen Feldern arbeiten - im Gegensatz zu jenen, die diese bloss ablichten. Daneben schreibe ich auch regelmässig. Damit habe ich das Wesentliche aufgeführt : Ich schreibe, kuratiere, halte Vorträge und unterrichte regelmässig an der ZHdK. Es ist also eingetroffen, was ich hoffte : Ich arbeite als Einzelgänger in dem Feld, in dem ich tatsächlich Experte bin, und gehe dabei neue Wege. Ich pendle nicht mehr sieben Tage in der Woche von Zürich nach Winterthur, sondern fahre nach Bologna, Mannheim, Paris, oder werde zu einem Vortrag nach Indien oder São Paulo eingeladen. Für mich persönlich war es der absolut richtige Entscheid, das Fotomuseum Winterthur, quasi das eigene Kind, nach 20 Jahren aktiv zu verlassen, noch im Vollbesitz der eigenen Kräfte, um etwas Neues anzufangen - so grossartig diese Jahre auch waren. Irgendwann wurde mir die Vorstellung fast unerträglich, im Fotomuseum auf meine Pensionierung zu warten, um dann aus einer Institution weggeschoben zu werden, die ich selbst mitbegründet hatte. Es wurde dringlich, vorher wegzugehen, und dieser Weg erweist sich als hoch spannend und beglückend.

MJ: Inwiefern hat sich deine Arbeit qualitativ verändert im Vergleich zu deiner Zeit im Fotomuseum ?

US: Ich habe letzten Sommer zu Hause in Zürich und in einem Haus in Soglio meine Vorlesung für die Uni vorbereitet. Dabei las ich sehr viel theoretische Literatur. Es ist ja eine merkwürdige Situation : In den 1970er- und 1980er-Jahren lag kaum Theorie zur Fotografie vor. Es gab eine Handvoll berühmter Bücher - Susan Sontag, Roland Barthes, John Berger - und dann habe ich schon Mühe, ein viertes oder fünftes zu finden. Um 1997/98 hob eine Welle von Fototheorie und -geschichte an, die seither exponentiell gewachsen ist. In dieser Zeit leitete ich jedoch das Fotomuseum, was bedeutete, dass ich zusehends überlastet war, vor allem mit Managementaufgaben, mit der Leitung eines KMU, so dass ich keine Zeit hatte, diese theoretische Schiene zu verfolgen. Manchmal konnte ich etwas herausgreifen, um es für ein Projekt, ganz utilitaristisch, möglichst schnell durchzukämmen. Das wars dann aber auch. Deshalb war es grossartig, letzten Sommer drei Monate lang zu lesen, zu schreiben, zu recherchieren und dazwischen in den Bergen zu wandern. Genau dies wollte ich - eine Rückkehr zu den Inhalten. Ich lese, schaue Dinge an, rede mit Künstlern. Merkwürdigerweise rede ich mit sehr viel mehr Künstlern, seit ich vom Museum weg bin. Damals hatte ich das Gefühl, ich hätte für Atelierbesuche keine Zeit mehr.

MJ: Widerspiegelt dies nicht einfach auch, wie sich der Beruf des Museumsdirektors hin zu einer Managerposition entwickelt hat ?

US: Ich glaube, das hängt sehr von der Grösse der Institution ab. 1993 schmissen wir das Fotomuseum mit zweieinhalb Vollzeitstellen. Ich hatte eine administrative rechte Hand, und jemand war zu 50 Prozent für Technik und Aufbau angestellt. In dieser Situation kann man in der Kaffeepause alles besprechen und muss keine formellen Sitzungen abhalten. Wenn eine Institution jedoch wächst, wenn nach zehn Jahren immer mehr Leute mitarbeiten - und damit hatte ich durchaus meine Schwierigkeiten -, muss alles formalisiert werden, man hält plötzlich täglich und mehrfach Sitzungen ab. Das verstärkt sich mit zunehmender Grösse. Als Direktor des Whitney Museums, des SFMOMA, aber auch schon des Kunsthaus Zürich ist man Lichtjahre von den Inhalten entfernt, weil man nur noch mit der Organisation beschäftigt ist. Bei jemandem wie Adam Weinberg vom Whitney Museum, den ich gut kenne und mit dem ich auch eine Ausstellung gemacht habe, spüre ich, dass es für ihn nicht den Hauch einer Chance gibt, in dieser Funktion überhaupt noch jemals selbst eine Ausstellung zu machen. Je grösser ein Museum, desto mehr ist der Direktor ein Firmendirektor wie jeder andere auch. 200 bis 300 Mitarbeiter müssen geführt werden, man muss Geld auftreiben, täglich Mittag- und Abendessen mit möglichen Sponsoren und Gönnern hinter sich bringen. Das Fotomuseum Winterthur hat nicht diese Grösse, aber seine Entwicklung von 1993 bis zur Eröffnung des Fotozentrums 2013, vom Minimuseum, das mit zweieinhalb Vollzeitstellen funktionierte, zum Betrieb mit 12 bis 13 Festangestellten, mit 30 Leuten bei einem Jahresessen, hat meinen Job komplett verändert. Letztlich war mir natürlich die Pioniersituation näher als die Leitung eines KMU. Auch in dieser Hinsicht war mein Weggang der richtige Entscheid, auch wenn es eine Weile dauerte, bis ich ihn gefällt habe.

MJ: Mit anderen Worten, das Fotomuseum ist dir zu gross geworden.

US: Das greift zu kurz. Es ist gross geworden, aber ich war auch 20 Jahre lang dabei. Das ist ein bedeutender Lebensabschnitt, bei dem sich irgendwann die Frage stellt : Wars das in meinem Leben ? Oder wage ich es, mit 60 nochmals neu anzufangen ?

MJ: Wie hat sich in den 20 Jahren, in denen du das Fotomuseum geleitet hast, die Fotografie verändert ?

US: Enorm, glaube ich. Als wir 1993 das Fotomuseum eröffneten, fragten uns viele, was das denn überhaupt sei, ein Fotomuseum. Die Leute hatten das Gefühl, wir würden Fotoapparate ausstellen und hätten vielleicht eine Dunkelkammer im Keller, wo man in Workshops das Vergrössern lernen könne. Die Vorstellung, Fotografie in einem Museum auszustellen, wirkte anfänglich befremdlich. Am Beispiel der Eröffnungsausstellung - meine Wahl von Paul Graham war programmatisch als Plädoyer für eine stärker konzeptualisierte Form des Fotografierens draussen in der Welt angedacht - kann ich dir eine zweite Antwort geben : Schon an der Vernissage wurde ich von Leuten angemacht, was das für eine Schnapsidee sei, diesen Fotografen auszustellen. Als an einem Samstagnachmittag die gewerblichen Fotografen aus Zürich, nach einem ausgiebigen Mittagessen mit Weisswein leicht angeheitert, durch die Ausstellung gingen, haben sie nur moniert, dass hier der Kodakfarbkeil nicht berücksichtigt sei, dass die Schärfe nicht stimme, all diese technischen Vorbehalte. In der Deutschschweiz, in Zürich, gab es damals nur ein sehr spärlich entwickeltes Bewusstsein für ein erweitertes Verständnis von Fotografie, die grosse Liebe zur reportierenden Schwarz-Weiss-Fotografie war weiterhin vorherrschend. Mir wurde gesagt : «Aber Sie zeigen doch sicher keine Farbfotografien ? !» Wir kennen den Skandal, den die Eggleston-Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art in den 1970er-Jahren auslöste, 20 Jahre später war das in Zürich immer noch ein Thema. 1990 kuratierte ich zusammen mit Martin Heller die Ausstellung «Wichtige Bilder» im Museum für Gestaltung in Zürich, die mit einer Ausstellung der Fotoagentur Magnum im Kunsthaus Zürich überlappte. Ein Kritiker veröffentlichte in der Weltwoche einen Artikel über die beiden Ausstellungen unter dem Titel «Grösser als Magnum ist keine Fotografie». Drei der vier Spalten, die er zur Verfügung hatte, füllte eine Abrechnung mit «Wichtige Bilder», die vierte widmete er einer Apotheose von Magnum, den Abenteuerfotografen, die in die unzugänglichsten Winkel der Welt reisen, in die man nur unter Führung von Einheimischen und unter Einsatz der letzten mentalen, psychischen und körperlichen Kräfte gelangen kann - und dies alles nur, um das aufregende Bild einer fremden Welt in unsere Stube zu bringen. Obwohl das Fernsehen diese Aufgabe seit den 1970er-Jahren übernommen hat, war dies 1990 immer noch die am weitesten verbreitete Idee von Fotografie. In den vergangenen 20 Jahren hat sich dies ziemlich stark verändert.

MJ: Bist du sicher ? Ich sehe hier durchaus eine gewisse Resistenz ...

US: Dein ketzerischer Einwurf ist berechtigt. Es hat sich vieles verändert. Es gibt aber weiterhin schwarz-weiss produzierende Fotografen, die, heute manchmal auch in Farbe, eine recht einfache Vorstellung des Verhältnisses von Bild und Welt hegen. Gleichwohl ist die Produktion anderer Arten von Bildern, auch im Schnittbereich mit der Kunst, sehr stark weitergetrieben worden. Eines kann man sicher sagen : Es gibt heute sehr viel mehr interessante Arbeiten, die sich auch mit der Bildproduktion selbst beschäftigen, mit der Frage nach der Wirkung von und dem Umgang mit Bildern. Das existierte 1990 nur in Anfängen. Zudem hat sich das allgemeine Verständnis für Fotografie entwickelt. Wenn ich früher historische Fotografien im Fotomuseum zeigte, war das Publikum zwischen 40 und 100 Jahre alt, wenn ich zeitgenössische Ausstellungen zeigte, zwischen 20 und 45. Heute mischt sich dies. Auch alte Menschen haben inzwischen ein Interesse für zeitgenössische Fotografie entwickelt, und junge Menschen erkennen, dass historische Fotografie, unter neuen Blickwinkeln betrachtet, durchaus interessant sein kann, gerade vor dem Hintergrund der «Re-enactments» der letzten Jahre. Dies heisst aber nicht, dass die problematischen Formen des Umgangs mit Fotografie komplett verschwunden sind.

MJ: Für die grosse Masse ist der Magnum-Fotografenheld immer noch der absolute Inbegriff der Fotografie.

US: Ja, leider stimmt das so. Und zwar die alte Form des Magnumbildes, inzwischen gibt es ja bei Magnum durchaus Leute, die wir beide respektieren. Die alte Form lebt trotzdem weiter, vielleicht gerade und besonders jetzt, da wir in einer Welt leben, in der die Sehnsucht nach der starken Figur wieder zunimmt. Je komplexer die Welt, desto grösser der Hang zu einfachen Lösungen, die freilich gar nicht existieren. Wenn man die politische Situation in der Schweiz und international anschaut, stösst man auf diese Sehnsucht nach der starken Figur, nach einem Helden, der uns retten wird. Dazu passt dieses Bild des klassischen Magnumfotografen, der unter Einsatz all seiner Reserven für uns, für die Menschheit, für die Welt, für den Humanismus in der Welt herumreist. Vielleicht wird sich diese Haltung auch gar nie ausrotten lassen.

MJ: Fotografen sind vielleicht bis zu einem gewissen Grad immer terribles simplificateurs. Die Welt wird jedoch zusehends komplexer. Du scheinst aber, beispielsweise auch in der «7P»-Ausstellung, zu glauben, dass Fotografie dieser Komplexität immer noch gerecht werden kann.

US: Eine leicht hingeworfene Frage, die nicht so leicht zu beantworten ist. Ich habe nie geglaubt, dass man mit einem Einzelbild etwas Wesentliches über die Welt sagen kann. Ein Einzelbild kann Emotionen wecken, Schönheit liefern, aber man kann nichts aussagen damit. Wenn das Einzelbild aber als Taste in einer Klaviatur mit anderen Bildern eingesetzt wird, lassen sich mit dem Medium Fotografie erstaunlicherweise durchaus komplexe Sachverhalte eindrücklich darstellen, und zwar in einer Weise, die sich dem Wort nicht erschliesst. Eine Debatte kann durch das fotografische Bild veranschaulicht werden. Dies hat den Vorteil (der natürlich zugleich auch ein Nachteil ist), die Betrachtung zu entschleunigen. Bei Fernsehbildern, bewegten Bildern im Allgemeinen, zieht alles in einer unglaublichen Geschwindigkeit an mir vorbei. Wenn ich aber einen Ausstellungsraum mit durchdacht installierten fotografischen Bildern betrete, kann ich mir Zeit nehmen, diese Bilder eingehend zu betrachten und meinen eigenen Weg durch die Ausstellung zu finden. Hier, glaube ich, kann die Fotografie weiterhin etwas leisten. Der Nachteil, um auch dies zu erwähnen, liegt darin, dass diese Entschleunigung Gefahr läuft, einen sentimentalen Aspekt zu haben. Es reicht nicht, einfach einen Ausschnitt der Welt in zwei, drei Bildern stillgestellt zu erfassen, daran glaube ich in keiner Weise.

MJ: Wenn es durch die Konstruktion einer reichen Bildtastatur immer noch möglich ist, relevante Aussagen über die Welt zu machen, dann ist es heute doch der Kurator und nicht der Fotograf, der diese Aussagen trifft.

US: Nehmen wir das Beispiel eines nicht sehr bekannten Fotografen, Lukas Einsele, der in einer von Thomas Selig kuratierten Ausstellung eine Wandinstallation aufbaute unter dem Titel The Many Moments of an M85 - Zenon's Arrow Retraced (2009ff.). Die Wand war hoch interessant, weil sie fotografische, historische und kuratorische Ansätze mischte, um bei jedem Bild zu fragen : Wie kommt es zu diesem Bild, wie kommt es zu dieser Situation ? Ich glaube, dass sich die Rollen heute sehr stark vermischen. Wenn ich als Kurator mit einem klassischen Fotografen umgehe, dann bringe möglicherweise ich die Komplexität in die Ausstellung. Aber heute gibt es immer mehr Künstler und Fotografen, die selbst so arbeiten.

MJ: Die Ausstellungen, die du heute machst, setzen Ansätze von Fotomuseums-Ausstellungen wie «Trade», «Im Rausch der Dinge» oder «Industriebild» fort. Du kuratierst kaum noch monografische Ausstellungen.

US: Das ist aber kein Programm. Es hat sich so ergeben durch die Aufträge, die ich erhielt. Ich habe im Moment in Bologna eine monografische Ausstellung am Laufen über Emil Otto Hoppé, einen verlorenen und vergessenen Fotografen, von dem ich in einem Archiv Industriefotografien aus den Jahren 1912 bis 1937 entdeckte. Und wenn alles klappt, werde ich im nächsten Herbst in Madrid eine Ausstellung über Lewis Baltz kuratieren. Es ist also nicht so, dass das Monografische völlig verschwunden wäre, aber vielleicht sind thematische Ausstellungen herausfordernder, weil sie eine grössere Dichte und Vielschichtigkeit zulassen, die wiederum interessantere Spiegelbilder der Weltsituation ermöglichen.

MJ: Dieser Typus von Ausstellungen hat das Fotomuseum Winterthur sehr stark geprägt.

US: Ich möchte dies am Beispiel der Einladungskarten und Plakate des Fotomuseums aufzeigen. Als wir 1990 zu dritt - Walter Keller, George Reinhart und ich - das Projekt des Fotomuseums in Angriff nahmen, untersuchte ich, wie draussen in der Welt mit Fotografie umgegangen wurde. Schon bevor wir zu den Grafikern gingen, wusste ich, dass ich im Erscheinungsbild eine klare Gleichwertigkeit von Text und Bild wollte. Fotoplakate bestanden damals häufig aus einer plakatfüllenden Schwarz-Weiss-Fotografie, und links oder rechts unten wurde der Name des Fotografen, der Ausstellung und der Institution aufgeführt. Ich gab den Grafikern den Auftrag, eine Art Spiel oder Kampf zwischen Text und Bild zu inszenieren, und daraus resultierten die Plakate und Einladungskarten mit je einer Bild- und Texthälfte. Es war ganz klar mein Bestreben, einen Ort zu gründen, wo alle möglichen Arten von Fotografie verführerisch und erotisierend ausgestellt, aber gleichzeitig auch Debatten über das fotografische Bild und die Welt entfacht würden. Dadurch entwickelte sich dieser Typus von Ausstellungen, wie «Industriebild», «Trade», «Im Rausch der Dinge» oder «Darkside I» und «Darkside II», als Spezialität des Fotomuseums.

MJ: Zu diesem Interesse am Zusammenspiel von Text und Bild gehört auch ganz wesentlich, dass du im Fotomuseum grossen Wert darauf gelegt hast, sehr aufwändige Kataloge zu produzieren. Du bist nicht nur ein Ausstellungsmacher, sondern auch ein passionierter Büchermacher.

US: Ja, stimmt, das macht mir riesig Spass, obwohl ich mir damit das Leben schwer mache, weil es automatisch die Arbeit verdoppelt. In den meisten Fotomuseen machte man damals eine Ausstellung, schrieb ein einseitiges Vorwort, klebte es an die Wand und hatte damit seine Arbeit getan. Ich wollte aber immer zwei Blickwinkel. In den 1980er-Jahren gab es einige wirklich schlimme Fotoausstellungen mit Bildern im Format 40 x 50, in endlosen Reihen aneinandergehängt, etwa die Cartier-Bresson-Retrospektive im Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris. Ich wollte beweisen, dass man mit dieser flachen, unhaptischen Ware, die bei ungenügendem Licht sofort tot wirkt, richtige Ausstellungen machen kann. Ich wollte, dass der Besucher die Fotografien im Volumen des Raumes wahrnimmt, und nicht in diesen endlosen Reihen mit einer mittlerer Bildhöhe von 1,5 Metern. Auf der anderen Seite interessierte mich das Buch, das ganz andere Erzählformen ermöglicht. Ich habe immer gesagt : «Ich will keine Kataloge machen, ich will Bücher machen, die eine eigene Erzählweise, ein eigenes Recht und eine eigene Laufzeit haben.» Bücher tragen die Ausstellung in die Welt hinaus, erlauben eine vertiefte theoretische Auseinandersetzung, eine ganz andere Leseweise der Bilder. Eine Ausstellung ist nach zwei bis drei Monaten vorüber, ein Buch verfügt über eine viel längere Halbwertszeit, da es die Leute immer wieder gerne in die Hand nehmen und anschauen können. Ich wollte Buchobjekte herstellen, die für die nächsten fünf Jahre eine Existenzberechtigung hätten. Die Kombination von Ausstellung und Buch als je eigene Form der räumlichen Inszenierung finde ich nach wie vor wichtig und spannend.

MJ: Du hast deine 20 Jahre Fotomuseum immer auch mit Texten begleitet und oft lange Essays über die Ausstellungen verfasst. Welchen Stellenwert hatte das Schreiben in deiner Arbeit als Museumsdirektor ?

US: Bevor ich das Museum leitete, habe ich geschrieben, unterrichtet und als freier Kurator Ausstellungen ausgerichtet. Ich war öfters zerrissen zwischen diesen drei Aufgaben. Als ich das Museum aufbaute, war mir sehr klar, dass diese drei Stränge nun zusammenkommen würden, dass ich dies alles nun an einem Ort machen würde - dass ich Ausstellungen machen, schreiben und bilden würde und dass dahinter letztlich ein leicht aufklärerischer, missionarischer Zug steckte. Ausstellen und Veröffentlichen hat für mich etwas mit Bildung zu tun - ich versuche, tolle Bilder auszustellen, die sich aber zugleich durch eine Haltung auszeichnen und uns für irgendein Phänomen in der Welt die Augen öffnen. Das war eigentlich immer mein Antrieb. Martin Schaub, der damals als Kritiker für den Tages-Anzeiger schrieb, sagte einmal in einem fast schon kritischen Ton : «Der Urs Stahel fährt da ein Realismusprogramm.» Ich habe mich dafür bedankt, weil mich tatsächlich immer Fotografie interessiert hat, die sich hart an der Realität reibt. Die Erotik des Ausstellungsmachens ist mir sehr wichtig. Es ist toll, wenn man in einen Raum kommt, der einen gefangen nimmt, aber ich finde es gleichzeitig entscheidend, dass man im Laufe des Ausstellungsbesuches einen diskursiven Zug entdeckt und anfängt, sich damit auseinanderzusetzen. Ich glaube an die Verführung und zugleich an die Enttäuschung dieser Verführung - an das Wechselspiel der Sinne und des Verstandes.

MJ: Du würdest also sagen, dass du eine gewisse Form des fotografischen Realismus propagierst ? Das zeigte sich auch daran, dass das Fotomuseum beispielsweise nur wenige Ausstellung zur Modefotografie zeigte.

US: Eine engagierte, künstlerische, diskursive Auseinandersetzung mit der Realität ist das, was mich interessiert, wenn ich auf deine Frage hin programmatisch antworten soll. Da fällt mir natürlich sofort Hans Danuser mit seinem Eindringen in Tabuzonen der Gesellschaft ein, oder Lewis Baltz, um ein internationales Beispiel zu nennen. Solche Arbeiten machen mir Lust, eine Ausstellung zu machen, auch heute und weiterhin. Einzelfiguren auszustellen, interessiert mich nur, wenn sie mich gewissermassen selbst erleuchten. In der Beschäftigung mit Hans Danuser oder Lewis Baltz habe ich so viel gelernt, dass ich fand, es lohne sich, diese als Einzelpositionen zu zeigen. Modefotografie interessiert mich auch, heute ein bisschen weniger als früher. Damals kaufte ich an Bahnhofskiosken, vor allem in Italien, sehr oft Modezeitschriften. Aber ich könnte nicht eine Ausstellung über Mario Testino machen, das würde mich langweilen. Eine Ausstellung über die Rolle der Mode und Modefotografie im Kontext der zeitgenössischen Gesellschaft würde ich jedoch sofort machen. Unter diesem soziologischen Aspekt interessieren mich alle Arten der Fotografie. Ich könnte mir beispielsweise auch vorstellen, eine Ausstellung über Selfies zu machen, auch wenn uns da vielleicht die Distanz noch fehlt. Die Frage, weshalb heute Selfies in so grosser Fülle gemacht werden, interessiert mich stark.

MJ: Das Selfie bringt mich zu einem anderen Punkt.
Die Fotografie hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten, wie ich meine, wesenhaft verändert - durch das Aufkommen der Digitalfotografie, durch das Internet, durch den Umstand, dass heute fast jedes Telefon auch ein Fotoapparat ist. Heute werden unablässig Bilder durch die Welt gejagt. Jeder kann Bilder veröffentlichen oder in Umlauf bringen. Die Fotografie ist zu etwas sehr Alltäglichem geworden und ist in anderer Weise Teil des Alltags als vor 20 Jahren.
Verändert dies deine Arbeit mit Fotografie ?

US: Es ist schwierig zu sagen, wie stark dies meine eigene Arbeit beeinflusst. Fotografie war schon länger Teil des Alltags, das hat sich lediglich noch verschärft. Sie hat sich schon mit der Kleinbildkamera in die Haushalte des Mittelstandes eingeschlichen und wurde so Teil des Alltags. Was sich jetzt entwickelt, ist eine andere Form von Alltäglichkeit. Dabei gibt es drei zentrale Punkte. Erstens gibt es nicht mehr Fotografen und Nichtfotografen, heute sind alle Fotografen. Jeder trägt eine Kamera mit sich herum, zumindest in weiten Teilen der Welt. Das ist eine ganz neue Situation. Auf der anderen Seite gibt es die Möglichkeit, die Bilder mit einer unglaublichen Geschwindigkeit von hier nach überall in der Welt zu senden, ins Netz zu stellen, potenziell für Tausende von Menschen sichtbar. Früher war dies sehr aufwändig, nur für wenige möglich, heute brauchen wir dafür nur ein paar Knöpfe zu drücken. Das Dritte ist die mögliche Einflussnahme auf das Bild. Das finde ich zunächst nur begrüssenswert, denn das digitale Bild bricht mit der Aura der Spur in der Fotografie. Es unterstreicht etwas, was mir sehr wichtig ist : dass die Fotografie immer nur einen subjektiven Blickwinkel auf die Welt zeigt, eine persönliche Sicht. Der Anspruch der objektiven, indexikalischen Wiedergabe der Ereignisse wird durch das digitale Bild radikal gebrochen, allein schon technisch. Es gibt keine Spur mehr, nur noch einen Code, der beim Ausdrucken re-naturalisiert wird. Die Möglichkeiten der Einflussnahme auf dieses Bild sind riesig und Veränderungen sind auch kaum wahrnehmbar, wenn man dabei geschmackvoll vorgeht. Nun steht definitiv fest, dass man mit Fotografie einfach Bilder macht, keine Abbilder. Sie sehen zwar verdammt ähnlich aus wie die Realität, deshalb ist auch der Glaube an sie so gross, aber letztlich sind es einfach Bilder. Diese drei Elemente haben die Fotografie sehr verändert und werden dies auch weiter tun. Doch all dies hat auch seine Kehrseiten. In einem Text formulierte ich einmal die Furcht vor der Masse dieser Bilder. In jeder Sekunde werden auf der Welt Millionen von Bildern gemacht. Man sagt, dass heute jedes Jahr so viele Bilder gemacht werden, wie in den 180 Jahren Fotografieproduktion davor zusammengenommen. Wenn dieser exponentielle Anstieg andauert, muss man sich die Frage der Bildverschmutzung stellen. Wenn die Abgasmenge ansteigt, stellen wir Messgeräte auf, um festzustellen, ob dies gesundheitsgefährdend ist. Analog dazu kann man sich fragen, ob die Menge der Bilder unsere Bildaufmerksamkeit schädigt. Wenn ich mit Bildern überflutet werde, wird mein Vermögen, sie wahrzunehmen, beeinträchtigt. Ich fürchte, dass das Sensorium für gute, spannende, komplexe Bilder geschwächt wird, weil wir von einer Flut gleichartiger Bilder umgeben sind : Das Motiv, das Subjekt steht im Zentrum, die Bildgestaltung ist unwichtig, denn es geht nicht mehr um Ästhetik, vielmehr hat das Bild mittlerweile Eventcharakter. Wir trinken einen Gin Tonic, lachen alle, machen dann ein Bild davon und stellen es online. Der Rest verrottet irgendwo in den wachsenden Speicherkapazitäten der Welt, in denen Milliarden, Billionen von Bildern lagern, über die kein Überblick mehr möglich ist. Bei massiver Zunahme der Menge kommt ein Grundgesetz der Geschichte zum Tragen : Die Implosion ist irgendwann unvermeidlich. Irgendwann einmal wird man keine Lust mehr haben auf diese Fotografien, weil es zu viele gibt. Vielleicht werden dann Regierungsvertreter aller Staaten zusammenkommen und die Fotografie offiziell begraben oder ein Subventionsprogramm für die «anspruchsvolle Fotografie» starten.

MJ: Wie kann man als Kurator dieser möglichen Entwertung des fotografischen Bildes entgegenwirken ?

US: Der Ausstellungsraum ist eine Art säkularer Kontemplationsraum. Die Welt bewegt sich immer schneller, und keiner kann ernsthaft behaupten, dass er mitkommt. Der interessant begriffene Ausstellungsraum der letzten 20 Jahre - ich rede noch nicht von der Zukunft - stellt einen Gegenpol dazu dar, in dem man sich aufmerksam erkundend bewegen und etwas über die Welt begreifen kann, sofern die Ausstellung als Forschungsfeld konzipiert wurde. Ich finde es sehr wichtig, solche Kontemplationszellen zu schaffen. Dies ist allerdings die Sicht eines 61-jährigen Menschen. Die Frage ist nun, ob dieser Raum noch genug attraktiv ist für einen 20-Jährigen, der in in einer Welt aufgewachsen ist, in der er passive Kontemplation nicht mehr kennengelernt hat. Wenn er dazu gezwungen wird, döst er auch sofort weg. Er ist nur noch konzentriert, wenn er aktiv ist, wenn er auf irgendeinem Gerät irgendetwas tippen kann. Er schaut kein Fernsehen mehr, denn auch dies ist eine Form der passiven Kontemplation, die ihn einschlafen lässt. Wie kriege ich ihn in eine Ausstellung, ohne einen Disneypark der elektronischen Möglichkeiten zu schaffen ? Ich muss gestehen, dass ich keine ausgestaltete Antwort darauf habe. Ich glaube zwar, dass sich dieser immobile Raum stärker mit den elektronischen Möglichkeiten vernetzen muss. Gleichzeitig gibt es aber schon genügend Unterhaltung. Wenn wir es ernst meinen, dürfen wir also das Museum nicht in eine Art neuen Technopark verwandeln, denn darin werden andere Orte immer besser und fortschrittlicher sein.

MJ: Wenn du zurückblickst auf die Zeit im Fotomuseum Winterthur, welches sind die Ausstellungen, die dir immer noch am Herzen liegen, und welche Ausstellungen siehst du im Rückblick auch ein wenig kritisch ?

US: Das Zweite ist fast einfacher zu beantworten. Wenn ich zurückschaue, sehe ich keine Ausstellung, die ich katastrophal finde. Es gibt natürlich Ausstellungen, die ich heute anders machen würde, weil wir in einer anderen Zeit leben. Aber es gibt keine, für die ich mich schämen müsste. Das macht mich ein klein wenig stolz, lässt mich aber auch fragen : Habe ich Mainstream geliefert ? Bin ich zu wenige Risiken eingegangen ? Diese Frage muss man sich immer wieder stellen. Es gab aus meiner Sicht viele wichtige Ausstellungen, entsprechend schwierig ist es, einzelne herauszugreifen. Ich habe Paul Graham erwähnt, eine für mich sehr programmatische erste Ausstellung. Im Jahr darauf folgte «Industriebild», eine radikal andere Form der Ausstellung, die mir sehr wichtig ist, nämlich das Arbeiten in Archiven, das Thematisieren eines Gebrauchs der Fotografie. Deshalb ist dies bis heute eine sehr entscheidende Ausstellung für mich, die ich in Zusammenarbeit mit Giorgio Wolfensberger erarbeitete. Dazwischen lag eine Ausstellung mit Lewis Baltz, eine Begegnung mit einem Künstler, von dem ich sehr viel über Fotografie gelernt habe. Dann gab es grossartige Begegnungen mit Fotografinnen und Fotografen wie Hans Danuser, Roni Horn, Ai WeiWei, Shirana Shabazi, um schweizerische und internationale Beispiele zu nennen. Aber als Einzelfigur hat mich gegen Ende meiner Zeit im Fotomuseum am allermeisten Stefan Burger herausgefordert. Die Ausstellung mit ihm war ein wunderbarer Weckruf für einen Kurator, der seit mehr als 20 Jahren Ausstellungen macht und dabei auch allmählich das Gefühl hat, er könne das ja ganz ordentlich, auch gute Reaktionen erhält und eigentlich einfach so weitermachen könnte. Und dann kommt jemand, der sich gegen diese Art des Ausstellungsmachens so ziemlich querstellt. Das war für mich eine am Anfang vielleicht harzige, aber letztlich grossartige Erfahrung, denn ich weiss nicht, ob ich am Ende von dieser Ausstellung nicht mehr gelernt habe als Stefan Burger. Ich arbeitete zum ersten Mal mit einem Künstler zusammen, der zwar eine Ausstellung machen will, aber zugleich auch deren Verweigerung inszeniert. Ich wünschte mir, dass mir diese Ausstellung früher widerfahren wäre. Denn wenn ich heute über Fotografien und Ausstellungen nachdenke, sehe ich den Ausstellungsraum in seiner vollen Dreidimensionalität und zeitlichen Dehnung. Ich kann mir jetzt problemlos vorstellen, ein Bild in der Ecke oben links auf vier Meter Höhe zu platzieren. Ich sehe die Ausstellung noch viel radikaler in 3D, und die Bilder bleichen beispielsweise im Laufe der Zeit aus. Am Ende sind mir aber vielleicht doch diese grossen Aufarbeitungsausstellungen, wie «Trade» und «Im Rausch der Dinge», am nächsten, für die man zwei bis drei Jahre investiert, wo ganz viele Leute ausströmen und Material sammeln. Ich liebe die Wechselwirkung zwischen der Manifestation von Einzelpersonen und der Bearbeitung von Fotografie im Kontext der Gesellschaft ; da tauchen auch immer wieder neue Felder auf, die noch nicht bearbeitet wurden. Es gibt noch viel zu entdecken, es wird mir also auch in Zukunft nicht langweilig werden mit der Fotografie. Eigentlich erstaunlich, nach all diesen Jahren.

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Urs Stahel